Ja, wir haben es auch gemacht: Wir haben auch Medizin studiert. Wir waren auch naiv und haben nicht auf jene ÄrztInnen gehört, die uns das damals ausreden wollten. Hier ist unser Versuch, euch deutlich zu machen, warum ein Medizinstudium in vielen Fällen eine folgenschwere Entscheidung und unter Umständen eine große, sich erst spät auflösende Illusion ist.
1) An der Uni selbst ist es noch ganz nett: Du darfst sehr lang StudentIn sein, viel länger als all deine Freunde mit ihren irrsinnig kurzen Bachelor-Studiengängen. Nach der Vorklinik ist Studieren auch nicht einmal mehr stressig – abgesehen von akuten Psychosen im Physikum und dem normalen Hypochondrismus kommt man durch ein Medizinstudium in den allermeisten Fällen relativ entspannt und ohne große intellektuelle Anstrengungen durch – auch wenn man an dieser Stelle nicht jene vergessen sollte, die bereits im Studium schwer erkranken.
Sobald du jedoch arbeitest wirst du merken, dass du deinem Chef auf Gedeih und Verderb ausgeliefert bist: Um einen Facharzt zu bekommen, muss dein Chef dir das Absolvieren der verschiedenen Ausbildungsinhalte bescheinigen. Wenn er dich aus welchen Gründen auch immer mag, bescheinigt er dir Arbeitserfahrung, die du nie gemacht hast. Wenn er dich hasst, dann zeichnet er dir nicht einmal das ab, was du jahrelang, Tag für Tag gemacht hast. Ja, natürlich kannst du auch kündigen, aber wenn du dir die bislang gearbeitete Zeit für einen Facharzt anrechnen lassen willst, dann muss dein alter Chef dir zumindest noch so weit gewogen sein, dass er die bislang erfolgten Ausbildungsabschnitte bescheinigt. Andernfalls fängst du wieder von vorne an. Das erklärt auch, warum viel zu viele ÄrztInnen teilweise mehr als zehn Jahre auf ihren Facharzt warten müssen statt der vorgeschriebene fünf bis sechs. Natürlich könnte man theoretisch Ausbildungsinhalte transparent und objektivierbar dokumentieren. Aber das würde die Macht genau jener ChefärztInnen beschränken, die einen solchen Kulturwandel hin zu mehr Fairness und Transparenz anstoßen und durchsetzen müssten. Eine gute Beschreibung dieser Mechanismen findest du auch hier.
2) In Europa wird die maximale Arbeitszeit von Angestellten durch die EU-Arbeitszeitrichtlinie geregelt – niemand darf länger als 48h pro Woche arbeiten. Niemand. Außer AssistenzärztInnen und ArbeiterInnen auf Bohrplattformen. Als Assistenzärztin wird dir deine Klinik in den meisten Fällen ein Zusatzformular zum Arbeitsvertrag vorlegen, ein sogenanntes „Opt-out“. Mit diesem verpflichtest du dich freiwillig, abhängig von der jeweiligen Klinik bis zu 90 Stunden pro Wochen ohne Freizeitausgleich zu arbeiten. Dazu kommt noch, abhängig von deiner Fachrichtung, für viele ÄrztInnen gesundheitsschädliche Nachtarbeit bis zum Ruhestand.
Ja, die Zeitungen sind voll mit Berichten über die neue ÄrztInnengeneration, die das nicht mehr dulde. Aber ganz ehrlich, die einzigen Kliniken, die dich nicht derart ausbeuten sind Fächer wie Geriatrie, Radiologie oder Psychiatrie, oder eben alle Mini-Krankenhäuser am Ende der Welt. Sobald du in einer halbwegs großen Stadt in einem Fach der direkten PatientInnenversorgung arbeiten möchtest, musst du all das meist über dich ergehen lassen.
3) Du arbeitest nicht nur viel, du wirst auch in den meisten Kliniken gezwungen sein, sehr viel zu tun, was medizinisch fragwürdig, wenn nicht gar grob falsch ist. Du wirst PatientInnen zu OPs und Interventionen überreden müssen, die ihnen gar nicht helfen können, du wirst sinnlose Diagnostik mit ihnen durchführen, du wirst sie im Auftrag deines Chefs anlügen müssen, wenn es wieder einen Behandlungsfehler zu vertuschen gilt. Alles, um den Erlös deiner Klinik und die Bonuszahlungen für deinen Chef zu steigern. Solang, bis du irgendwann selbst deinen moralischen Kompass verlierst.
4) Die Suizidrate unter jungen ÄrztInnen ist überdurchschnittlich hoch und wird gerade vor allem im englischsprachigen Raum zum ersten Mal breit diskutiert – allein in den USA bringen sich jedes Jahr 400 ÄrztInnen um, für Deutschland gibt es aktuell keine Zahlen aber zahlreiche Fallbeispiele und keinen Anhalt dafür, dass die Suizidrate hier stark von US-amerikanischen Verhältnissen abweicht.
5) Lies „House of God“ und Blogs von ÄrztInnen im Burnout nicht als Satire, sondern als subjektive Tatsachenberichte. Sie sind die verschriftlichte Weltsicht, die sich in dir breit macht, wenn du seit Monaten jeden Tag über 14h arbeitest, Schlafstörungen hast, dein soziales Umfeld in den wenigen Minuten, in denen du es siehst, aggressiv anfährst und jeden Patienten hasst, der etwas von dir will.
6) Wenn du eine Frau bist: Die Medizin ist der Wirtschaftssektor mit dem geringsten Anteil an Frauen in Führungspositionen: Gerade einmal 10% aller ChefärztInnen sind Frauen. Tendenz konstant. Wenn du eine Frau mit Ambitionen bist, dann geh lieber in die Automobilbranche. Anstatt zu helfen schüren Medizin-Professoren in der Zwischenzeit Panik vor der Frauenschwemme in der Medizin.
7) Du bist international nicht wirklich gut mobil. Um Medizin praktizieren zu können, braucht man meist sehr, sehr gute Sprachkenntnisse. Zusätzlich kann man als ausländischeR ÄrztIn in Kanada quasi gar nicht arbeiten, in den USA und Australien nur nach dem Wiederholen sämtlicher, teurer Staatsexamina, in Großbritannien bekommt man nahezu keine Stelle aufgrund des großen internationalen Andranges, ebenso bekommt man kaum eine Stelle in Österreich. In den meisten übrigen Ländern Europas verdient man als Anfänger gerade einmal 800 Euro im Monat und kann davon kaum leben. Die einzige wirklich bequeme Option: Schweiz. Aber die muss man mögen.
8) Medizin ist nicht spannend. Medizin ist Fließbandarbeit mit Menschen, an Menschen. Selbst das spannendste Fachgebiet wird sehr schnell eintönig, wenn du jeden Tag, für über 40 Jahre, immer wieder das Gleiche machst. Es gibt keine Projekte, die beginnen und abgeschlossen werden, auf die man stolz zurückblicken könnte, es gibt nur diesen niemals stoppenden Strom von PatientInnen mit ihren immergleichen Problemen. Und du kannst ihnen meist nicht einmal so helfen, wie du wölltest, denn Abrechnungsmodelle und deine eigene Zeitknappheit stehen dem im Wege.
9) Gerade als Frau in der Medizin, gerade in besonders hierarchischen Bereichen wie Chirurgie und Notfallmedizin wirst du am Anfang deines Weges sexueller Belästigung ausgesetzt sein – 50 bis 70% aller ÄrztInnen wurden in ihrem Beruf bereits sexuell belästigt – von Chefs, von Kollegen, von Patienten. Es ist nicht einfach, sich gleichzeitig im OP begrapschen zu lassen, den Sauger intelligent zu bedienen und auch noch seine Würde zu behalten.
Natürlich gibt es trotzdem viele Gründe, trotzdem Medizin zu studieren. Aber man sollte wissen, worauf man sich einlässt.